Das Thema, auf das keiner mehr Lust hat, das wir aber dennoch nicht aus den Augen verlieren sollten. Seit Anfang des Jahres kämpfen wir, die Menschen dieser Welt, mit einem neuen Virus, welches bereits mehrere Hunderttausende dahingerafft hat. Dass es soweit kommen konnte, haben wir uns zu einem großen Teil selbst zuzuschreiben und es ist nicht abwegig, dass es zu weiteren Pandemien kommen wird . Möglicherweise wartet das nächste Virus schon in den Schweineställen. Obwohl es noch vieles gibt, das wir über das neue Corona-Virus nicht wissen, wissen wir dich schon genug, um fehlinterpretierte Meldungen aus der Wissenschaft sowie absoluten Bullshit widerlegen zu können.
Aber wir sind das Thema Leid. Die meisten von uns sind auch die Maßnahmen Leid. Der Lockdown im Frühjahr war zwar sicherlich für den eher introvertierten Teil der Bevölkerung eine vorübergehende Wohltat, das Einkaufen wurde weniger stressig, da man weniger Menschen konfrontierte, manche Maßnahmen - Abstand halten, das Vermeiden einer hohen Anzahl Kontakte - war für diese Menschen ohnehin schön längst Regel statt Ausnahme. Dennoch werden wir mit vielen indirekten Corona-Schäden leben müssen - und ich rede an dieser Stelle nicht von "der Wirtschaft". Ärzte und Pfleger gerieten gerade in Regionen mit hohen Infektionszahlen an ihre körperlichen und psychischen Grenzen, manche Senioren starben während des Lockdowns an Einsamkeit und auch an Kindern und Jugendlichen geht so eine Krise wohl nicht spurenlos vorbei. Das sind nur ein paar Beispiele aus einer ganzen Bevölkerung von Menschen unter Stress, in Angst vor einer unsichtbaren Gefahr. Die Folgen des SARS-Ausbruches vor vielen Jahren lehren uns, dass viele psychische Krankheiten erst lange Zeit später wirklich sichtbar werden. Man rechnet damit, dass die Folgen von Covid-19 ähnlich schwerwiegend sein könnten: "the virus will cause significant upticks in obsessive-compulsive disorder, agoraphobia, and germaphobia, not to mention possible neuropsychiatric effects, such as chronic fatigue syndrome." Der Artikel, aus dem dieses Zitat stammt, bezieht sich vor allem auf die Situation in den USA mit seinem bekanntermaßen mangelhaften Gesundheitssystem. In den Grundzügen mag es in Deutschland bei Weitem besser sein, doch jeder, der direkt oder indirekt mit der Behandlung von psychischen Erkrankungen in Deutschland zu tun hatte, weiß, dass es auch hier massiv an Fachpersonal mangelt.
(Artikelempfehlung: "Wie hilft man einem depressiven Angehörigen" - In dem Artikel behandelt Prof. Ulrich Hegerl (Vorstandsvorsitzender der Deutschen Depressionshilfe) das Thema Depression und wie vor allem Angehörige mit einem depressiv Erkrankten umgehen können/sollten. Im Zentrum steht dabei zu verstehen, was eine Depression eigentlich ist. So sollen Missverständnisse vermieden und einem falschen, wenn auch gut gemeinten Verhalten dem/der Depressiven gegenüber vorgebeugt werden. Der Artikel ist u.U. auch für solche lesenswert, die bereits Erfahrungen mit einem depressiven Menschen haben.)
Doch hier in Deutschland atmen wir derzeit ein wenig auf. Die Infektionszahlen sind, von ein paar schwerpunktmäßigen Ausbrüchen abgesehen, gering (Stand 11.07.2020). In Schleswig-Holstein, wo ich ja jetzt wohne, dümpeln die Neuinfektionen im einstelligen Bereich. Vielerorts gab es Lockerungen und es folgen immer mehr. Solange sich der Großteil der Menschen dabei an die grundsätzlichen Verhaltensregeln hält, ist es potentiell möglich, das Virus in Deutschland "aushungern" zu lassen.
Wir wollen alle, dass es endlich vorbei geht. Seit Monaten zieht sich diese Pandemie schon hin und nicht bei allen gehen die neuen Verhaltensregeln ins Blut über (bei manchen hingegen schon). Manche müssen sich die Regeln immer wieder bewusst machen, in Alltagssituationen jeden Handgriff bewusst überlegen, sich immer wieder daran erinnern, anderen nicht zu nahe zu kommen, ihre Mund-Nasen-Masken zu tragen (und das über Mund und Nase!), sich immer wieder die Hände zu waschen, mit Seife, mindestens 30 Sekunden... das ist anstrengend. Es nervt.
Manche Menschen infizieren sich deswegen bewusst mit Covid-19 oder denken zumindest darüber nach, um es dann "hinter sich zu haben". Diese Herangehensweise ist nicht nur wegen der Infektionsgefahr, die anschließend von diesen Personen ausgeht, sowie wegen der potentiell enormen gesundheitlichen Schäden - ein Artikel auf Spektrum.de trägt nicht umsonst den Titel "Wie das Virus den Körper verwüstet" - leichtsinnig. Es ist vor allem noch gar nicht sicher, ob und wie dauerhaft sich eine Immunität einstellt. In Preprint-Studien, in denen Menschen nach überstandener Covid-19-Infektion auf Antikörper untersucht wurden, stellte sich jetzt heraus, dass gerade in Menschen mit mildem oder asymptomatischem Krankheitsverlauf nur wenige bis keine Antikörper nachgewiesen werden konnten. Das stelle wohl unter anderem die Ergebnisse von Corona-Massentests sowie die Gültigkeit von Immunitätsausweisen in Frage. Auch ist noch lange nicht geklärt, welche Antikörper wie gut gegen das Virus schützen und wie hoch beispielsweise der Antikörperspiegel im Blut sein muss, um einen verlässlichen Schutz zu gewährleisten. Weitere Untersuchungen legen derzeit nahe, dass das Erreichen einer Herdenimmunität durch natürliche "Durchseuchung" nicht möglich sei. Und selbst wenn doch, hat die Wissenschaft noch keine Antwort darauf, wann eine Herdenimmunität für Covid-19 erreicht wäre. Immunbiologie ist nunmal leider etwas kompliziert.
Für die Fraktion "dann habe ich es hinter mir" bedeutet das vor allem, dass es nach überstandener Infektion keinen Garant für Immunität gibt. Das Vorgehen wäre also ggf. nicht nur leichtsinnig, sondern auch komplett nutzlos.
Gerade in Gegenden mit geringen Infektionszahlen werden die Menschen sicherlich nachlässig. "Hier gibt es ja kein Corona". Das ist leider nicht unbedingt richtig. Es wird schnell vergessen, dass die Infektion bei manchen Menschen asymptomatisch verläuft. Diese Menschen gehen nie zum Arzt, sie fühlen sich ja nicht krank. Entsprechend gehen sie nie in die Statistik ein. Andere infizieren können sie aber dennoch. Auch grassiert das Virus in anderen Ländern stärker als es in Mitteleuropa derzeit vielleicht der Fall ist. In einer globalisierten Welt lässt sich der Erreger leicht von einem stärker betroffenen Land wieder in ein Gebiet bringen, welches seine Vorsichtsmaßnahmen aufgrund seiner eigenen Situation eventuell stark gelockert hat. Wobei auch nicht alle Lockerungen sinnvoll verlaufen. So wird zum Beispiel die Rolle der Aerosole in der Übertragung des Virus bislang oft stark unterschätzt. Vorbeugungsmaßnahmen gegen eine Infektion durch "Corona-Aerosole" sind dabei in vielen Fällen gar nicht so kompliziert - sie müssen nur umgesetzt werden.
Man liest es wohl raus, dass es mir schwer fällt, bei all den Unsicherheiten und der Leichtsinnigkeit vieler Menschen wirklich optimistisch zu sein. Die Infektionszahlen sinken in meinem Land zwar allmählich, aber Menschen bleiben Menschen, unvorsichtig, stellenweise scheinbar erratisch in ihrem Handeln, beeinflusst und beeinflussbar von so vielen Faktoren, innerlich wie äußerlich. Nicht wenige werden sich danach sehnen, dass man ihnen sagt, was zu tun ist, da sie es selbst in ihrer Verwundbarkeit einem unsichtbaren Feind gegenüber nicht wissen. Den staatlichen Vorgaben zu folgen, solange diese primär aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen entspringen und nicht nur durch wirtschaftliche Interessen motiviert sind, ist eine gute Grundlage, denke ich. Doch ist es wirklich eine gute Idee, sich in Menschenversammlungen von bis zu 50 Personen zu begeben, nur weil es hier und da jetzt erlaubt ist? Sind sechs Meter Abstand vor einem Blasinstrument in einem geschlossenen Konzertsaal wirklich sicher?