Die nächstgrößere Stadt in meiner Umgebung ist Rendsburg. Mit 30 545 Einwohnern (Stand 31.12.2023) ist es recht übersichtlich; für die wichtigsten größeren Erledigungen wie Facharzttermine oder Besorgungen im Bau- und Landmarkt sowie größere Lebensmitteleinkäufe verschlägt es uns meist dorthin.
Rendsburg besitzt einen Altstadtteil mit einigen schönen, wenn auch leider größtenteils nicht sonderlich gut gepflegten, Fassaden aus ausgemauertem Fachwerk oder auch reinen Backsteinmauern, zum Teil mit historischen Feldbrandziegeln. Zuweilen nehme ich mir gerne ein wenig extra Zeit und betrachte diese alten Fassaden, die oftmals noch mit mehr Liebe zum Detail - und mit mehr Detail allgemein - gefertigt wurden. Immer wieder entdeckt man neue Details, sei es dekorativ angeordnete Ziegel um ein Fenster oder eine Tür, beschnitzte oder bemalte Balken des Fachwerks, Zeichen von Umbauten (wenn beispielsweise ein altes Fenster mit neueren Ziegeln ausgemauert wurde, oder ein ehemaliger Anbau einst abgerissen wurde, was Spuren in der angrenzenden Wand hinterließ), oder wie jüngst, angeklebte Nasen.
Angeklebte Nasen. Wie bitte?
Meine Eltern waren zu Besuch und meine Mutter half mir mit ein paar Besorgungen in der Stadt. Da wir beide uns gerne schonmal schöne, auch etwas ältere oder verwunschene Dinge anschauen, beschloss ich, ihr ein paar Ecken mit hübscheren Hauswänden zu zeigen. An einer zwar nicht historischen, aber doch kunstvoller gemauerten Backsteinfassade fiel sie mir dann auf: Die Nase.
Kurios: Eine Ton-Nase, einfach frech zwischen die Backsteine geklebt. Ich freute mich riesig über diesen dezent versteckten und doch exzentrischen Schabernack. Was finde ich als nächstes? Ohren?
Doch diese Nase sollte nicht die einizige bleiben. An einer anderen Backstein-Fassade schnüffelte uns der nächste Rüssel entgegen:
Wir gingen auf Nasenjagd. Unser Eindruck war, dass die Nasen nur auf hübschen Backsteinfassaden zu finden waren. Zwei weitere Nasen sollten wir an diesem Tag noch finden und diese waren in der Tat alle an Backsteine geheftet (wir schauten auch auf andere Fassadentypen). Manchmal in für uns bequem erreichbare Höhen, manchmal auch für große Menschen nur schwer erreichbar.
Wer steckte dahinter? Was war das Muster, was die Intention? Nicht alle Nasen lagen an unbedingt stark frequentierten Orten. War es vielleicht eine Aktion der lokalen Tourismus-Branche? Dienten die Nasen als Haltepunkte für Führungen? Nach der dritten Nase kam mir die Idee, in der Tourismus-Information nachzufragen. Diese liegt im (immerhin sehr gut gepflegten) alten Rathaus, ein malerisches altes Gebäude, dessen Gefache in unterschiedlichsten Mustern ausgemauert sind. Die Fenster bestehen teilweise aus Buntglas, die Türen sind beschnitzt und bemalt. Alleine mit der Betrachtung dieses einen Gebäudes kann man viel Zeit verbringen. Am alten Rathaus fand ich keine Nase.
Weder wusste man, wer hinter den Nase steckte. Der Herr am Schalter schien sichtlich amüsiert, nachdem ich verkündete, ich hätte "drei Nasen gefunden", erkannte aber bald, worum es mir ging. Die Nasen an sich sind bekannt. Ein unbekannter Künstler habe eine unbekannte Anzahl Nasen an insgesamt unbekannten Stellen angebracht, manchmal wechselten die Nasen gar den Standort. Laufende Nasen quasi. Die Intention dahinter? Nicht bekannt.
Das war für mich einerseits unbefriedigend, andererseits hielt es die Sache aber auch spannend. Wie viele Nasen sind es nun? Und gibt es nun ein Muster? Was sagt es uns?
Zufällig hatte ich gestern noch einmal einen Termin in Rendsburg und nahm mir anschließend Zeit, ein wenig auf Nasen-Safari zu gehen. Insgesamt fand ich noch acht weitere Nasen, von denen ich fünf fotografierte. Eine davon war bereits weggelaufen.
Was auch immer die tatsächliche Intention des Künstlers - oder der Künstlerin, wir wissen es ja nicht - sein mag... die Nasen haben mich dazu gebracht, nochmal genauer hinzuschauen. Ein wenig mehr um die Fassaden zu schnüffeln. Nach versteckten Details zu suchen. Noch einmal durch etwas verstecktere, weniger offensichtliche Straßenzüge zu schlendern. Den Scheuklappenblick, mit dem wir oft von A nach B eilen, abzulegen (was ich vielleicht ein wenig weniger nötig hatte als andere). Es mir noch ein wenig egaler sein zu lassen, wenn es eventuell etwas sonderbar aussieht, wie ich penibel die verschiedenen Fassaden öffentlicher wie privater Gebäude inspiziere. Mich auch an der Nase herumführen zu lassen? Immerhin ist mir erstmalig aufgefallen, wie beeindruckend das Gebäude aussieht, in dem der Studienkreis Nachilfe einquartiert ist (neben dem schicken Theatergebäude). Und dass ich ja schön länger mal ins Museum im Hohen Arsenal wollte. Besser als zuhause vor der Glotze zu hocken, von Nachrichtensendungen schlechte Laune zu bekommen und über Filme und Serien in Parallelwelten zu fliehen war es allemal. Wobei ja nichts gegen eine gute Realitätsflucht hier und da einzuwenden ist (wozu sonst gibt es das wundervolle Fantasy-Genre? Wozu gibt es Bücher?). Wenn man einen Moment drüber nachdenkt: Ist es nicht auch eine Art von Realitätsflucht, wenn man einen Vormittag lang in einer Altstadt auf Nasensuche geht? Kann man sich dabei nicht auch als Charakter einer etwas wundersamen Geschichte fühlen?
Unsere Internetrecherche zu den Rendsburger Nasen brachte übrigens nur wenig Erkenntnis. Ein Artikel der sh:z vom 26. Juli 2016 (!) steckt hinter einer Paywall, berichtet im Teaser aber immerhin über nicht weniger als 40 versteckte Nasen. Vierzig! Ich fand zwölf.
Es gibt also noch viele, viele Nasen zu finden...