Vor ein paar Wochen stand ich mit zwei anderen Biologen nachts am Ufer eines Sees. Die Fledermaus-Rufe knatterten in stereo durch die zwei Detektoren und brachten nicht nur die anderen Exkursionsteilnehmer, sondern auch uns zum Staunen. Es war warm, die Insekten aktiv - vor Mückenstichen brauchten wir uns aber kaum Sorgen machen, denn all die Mücken schienen uns die Fledermäuse direkt vor der Nase wegzunaschen. Zwischendurch wurde kurz eine Taschenlampe angemacht, um das wilde Geflatter über dem Wasser sichtbar zu machen.
Irgendwann zeigte eine der anderen Biologen auf einige blühende Pflanzen am Uferrand. "Das ist doch der Echte Baldrian, oder?" Von der einen Seite kam eher verhaltene Zustimmung; zwei der drei Biologen fühlen sich eher in der Zoologie als in der Botanik zuhause. Ich bin eine davon, stutzte aber. Die Lichtbedingungen waren nicht optimal, dennoch erkannte ich, dass irgendwas falsch war. Der "Habitus" schien einfach nicht richtig, irgendwas an den Blättern und vor allem den Blüten war anders als es beim Baldrain sein sollte, ich konnte es nur nicht klar benennen. Mein Hirn machte bei dem Anblick der Pflanze nicht die Schublade "Baldrian" auf, stattdessen sagte ich: "Ist das nicht der Wasserdost?"
Die Verwirrung sollte bald geklärt werden, eine der anderen zückte ihr Smartphone und öffnete eine App, "Flora Incognita". Im Schein der Telefon-Lampe wurde der Blütenstand geknipst und ein Name ausgespuckt: Gewöhnlicher Wasserdost. Ich wurde gelobt, danach vor allem die App. Flora Incognita sei ein guter Grund, sich ein Smartphone anzuschaffen.
Es gibt verschiedene Gründe, warum ich diesen Geräten gegenüber skeptisch eingestellt bin und mich der Benutzung bislang erfolgreich störrisch verweigere. Naturkundliche Apps gehören jedoch zu den Dingen, die mich bislang am ehesten an meiner Überzeugung haben zeifeln lassen. Insbesondere die Möglichkeit, spielerisch Artenkenntnis zu erwerben, z.B. auf dem Gebiet der Vogelstimmen (wo ich mich nach wie vor schwer tue) wirkten für mich immer attraktiv. Apps zur Bestimmung von Arten im Feld hingegen sind allenfalls für ein wenig Naturerlebnis für den Laien zu gebrauchen. Ein Erlebnis, das ich all den naturinteressierten Laien da draußen auch gönne, nein, aktiv wünsche. Solche Apps sind zwar potentiell fehlerhaft, schließlich spielen bei z.B. einem Foto Ausleuchtung und Winkel ebenso eine Rolle wie die grundsätzliche Bestimmbarkeit einer Art (manche Insekten z.B. sehen sich zum Verwechseln ähnlich, wichtige Details sind auf einem "Schnappschuss" schwer feststellbar). Doch intelligente Lernprozesse in der Software machen heute vieles einfacher und manches Möglich, was vor vielleicht wenigen Jahren in der Praxis noch undenkbar war. Menschen können sich so auf einfachem und bequemem Weg einen Reim aus alledem machen, was um sie herum wächst, kreucht und fleucht, ohne sich mit einer halben Bibliothek aus Naturführern abmühen zu müssen. Das ist gut, denn was man kennt, kann man leichter wertschätzen und schützen.
Aber...
Aber trotzalledem glaube ich, dass es sich lohnen kann, bewusst auf diese Bequemlichkeiten der Schnellbestimmung zu verzichten. Gerade als Biologie oder Naturwissenschaftler ähnlicher Studienbereiche erwirbt man in der Ausbildung (idealerweise) die richtigen Werkzeuge, um eine gute Bestimmung ohne diese Gimmicks zu erreichen. Man lernt, auf die wichtigen Details zu achten. Bleiben wir bei den Pflanzen: Wo wächst die Pflanze? Wie hoch wächst sie? Wie sind ihre Blätter geformt? Welche Form hat der Blütenstand (z.B. Rispe, Dolde, Körbchen oder Einzelblüten)? Welche Farbe haben die Blüten, wie viele Blütenblätter sind erkennbar und wie sind diese geformt? Welche Form haben die Früchte? Das klingt erstmal nach sehr viel und das ist es auch, wenn man sich jeder der Fragen im Detail widmet. Hat man in seinem Studium aber - in Rahmen von Exkursionen und Praktika - hinreichend Übung gesammelt, reicht manchmal schon ein grober Gesamteindruck der Pflanze, um auch bei vergleichsweise wenig botanischem Interesse halbwegs richtig zu liegen. Erfahrung und vor allem das Wiederholen festigen das Wissen. In unserem Baldrian-Wasserdost-Beispiel ist es so, dass ich beide Arten schon oft gesehen habe, aber nie pingelig auf alle Details achtete. Dennoch formte sich ein genereller Eindruck der jeweiligen Art in meinem Kopf. Ich hätte nicht beschreiben können, wie genau der Baldrian denn nun wirklich aussieht, ich wusste nur: So nicht.
Begegne ich einer Art, die ich nicht kenne, achte ich zumindest auf einen Teil der Details, um es beim nachschlagen später leichter zu haben. Ich bin aufmerksam und schaue mir die Pflanze (oder das Tier oder den Pilz) genauer an.
Diese Art der Aufmerksamkeit und all das dadurch erworbene Wissen könnte bei häufiger Nutzung naturkundlicher Bestimmungs-Apps komplett degradieren. Beim Anblick eines unbekannten Lebewesens würde der Denkprozess schnell bei "kenne ich nicht" aufhören, dann würde das Smartphone gezückt, damit die App alles Weitere für mich übernimmt. Besonders peinlich dann der Moment, wenn man dieselbe Art innerhalb kurzer Zeit mehrfach "bestimmt". Der Aha-Effekt bliebe bei "Ach, der schon wieder!", gelernt würde wenig. Und ist das Telefon mal kaputt (oder der Akku leer), bleibt man ratlos zurück.
Manchmal lohnt es sich, sich zu seinem Glück zu zwingen. Ich entscheide mich dazu, mich gar nicht erst in die bequeme Lage zu versetzen, sondern wähle den unbequemen Weg. Mit den Jahren wird meine Artenkenntnis wachsen, und ich werde sie mir gut verdient haben. Solange es möglich ist, ohne Smartphone durch diese Gesellschaft zu gehen, will ich es tun. Denn es gibt gute Gründe, kein Smartphone zu benutzen.