Wer aufmerksam durch die Natur geht, entdeckt viele Wunder. Für die meisten muss man gar nicht lange suchen, sie liegen quasi vor der eigenen Nase. Es reicht, seinen Fokus ein wenig zu verschieben...
Ein paar kleine Wunder entdeckte ich gestern, als ich mich, das sonnige Winterwetter genießend, in einem kleinen Waldstück aufhielt. Statt die üblichen Wander- und Spazierwege zu nutzen, hielt ich mich vor allem abseits davon auf Wildwechseln auf. Neben einigen Plätz-Stellen fielen mir diverse Trittsiegel ins Auge, die je nach Bodenuntergrund unterschiedlich ausgeprägt waren, sowie typische Rehlosung entlang des Wechsels (als "Plätzen" bezeichnet man eine bestimmte Art der Territoriums-Markierung von Rehböcken; erkennbar sind Plätzstellen im Wald vor allem daran, dass an einem Fleck von einigen Dezimetern Durchmesser die obere Laubstreu weggewischt ist). Ich entdeckte Zunderpilze und Birkenporlinge an stehenden, toten Bäumen, auf einem der Wildwechsel ein Schulterblatt, vermutlich vom Reh, halb verwittert, grün von Algen und an den Ränden von Nagern angefressen; in einem auf dem Boden liegenden, angesägten hohlen Baumstamm wiederum die feinen Knochen von einer Vielzahl kleiner Nagetiere, die wohl einem Räuber zum Opfer gefallen und im Schutze der Stammhöhle verzehrt worden waren. Während ich an einer Böschung Pause machte, huschte ein Goldhähnchen, unser kleinster Singvogel, durch den Ilex. Am Ende meines Spazierganges beobachtete ich ein Paar des wiederum größten Singvogels, namentlich des Kolkraben.
Die tiefstehende Wintersonne betonte die Farben des kahlen Laubwaldes. Der kupfrig-braune Ton der vertrockneten Buchenblätter, grün-graue Rinden derselben Bäume, schwarz-weiße Borken von Birken, durchsetzt vom dunklen Immergrün des ledrigen Ilex, leuchtende Grüntöne der Moose und blasses Weißblau der Flechten. Dazwischen flogen kleine Schwärme von Wintermücken auf und ab und sahen im Gegenlicht aus wie tanzende Feen.
Wie farbenfroh ein einzelner toter Birkenast sein kann, wurde mir an einem solchen Exemplar bewusst, das ich neben einem ansonsten unscheinbaren und auffällig matschigen Reitweg entdeckte. Manche Bilder gelingen nicht aus zwei Metern Entfernung stehend, also räkelte ich mich für ein paar Schnappschüsse mal wieder genüsslich auf dem Waldboden (neben dem Matschweg), sehr zur Verwunderung eines Pferdes, welches lieber einen großen Bogen um mich machte (die Reiterin musste wahrscheinlich allenfalls schmunzeln und grüßte höflich).
An einigen Stellen ringelte sich die Borke noch um den Stamm, einen glänzend-schwarzen Akzent setzte der Warzige Schwarzdrüsling an einem ansonsten dünn mit Moos und Flechten bewachsenem Seitenast. An abgebrochenen Stellen schaute das blasse Holz hervor, durchzogen von schwarzen Mycel-Linien. Nicht blass, sondern braunrot geflammt schien einem dasselbe Holz an anderer Stelle entgegen, wo die Rinde abgeplatzt war und sich kontrastreich gelbe Ascomyceten hinausschoben. Noch andere, flauschig-weiße Pilze bedeckten fleckenweise die schmutzige Rinde.
Wer bei solch einem sich langsam zersetzenden Ast bloß die Nase rümpft und etwas von"unordentlich" und unter totem Geäst "erstickendem Boden" schwafelt, hat nicht nur keine Ahnung von der Materie. Nein, dieser Person geht eine ganze Welt verloren. Ein toter Baum enthält häufig mehr Leben als zu seinen eigenen Lebzeiten. Ein geschultes Auge erkennt dies sofort, kann gegebenenfalls die Pilze, Flechten und Moose, die Spinnentiere, Tausendfüßer, Asseln, Insekten und deren Larven beim Namen nennen, bemerkt die groben und feinen Spuren, die von Vögeln und Säugern hinterlassen werden. Dem Laien mag die Vielfalt der Lebewesen nicht direkt ins Auge fallen. Doch alleine die Farbenvielfalt möge ihn zum Staunen bringen und eine Wertschätzung für all die komplexen und fadszinierenden Prozesse dieses lebendigen Todes auslösen, der für ein gesundes Ökosystem - und somit unsere eigene Gesundheit - doch unausweichlich und letztendlich notwendig ist.