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Last but not least: die Unerwartete

von Diane am 20. Januar, 20:32 Uhr

In der Vorwahl zum Vogel des Jahres 2021 hat ausgerechnet die Stadttaube Platz 1 errungen. Unter allen 307 Brutvögeln Deutschlands hat sie in der Vorwahl die meisten Stimmen erhalten. Was nicht bedeuten muss, dass sie schlussendlich auch gewählt wird. Wenn sich der Großteil der Menschen, die in der Vorwahl für einen anderen Vogel gestimmt haben, weiterhin gegen den verwilderten Verwandten einstiger Brieftauben wenden, wird es nichts mit dem unerwarteten Titel.

Aber wieso eigentlich unerwartet? 2020 war ja schon einmal eine Taube Vogel des Jahres, nämlich die Turteltaube. Gut, die ist in Deutschland ursprünglich heimisch und steht für besondere, schützenswerte Lebensräume. Das schafft die Stadttaube nicht. Aber mit geschätzt 500 Millionen Tieren gibt es doch so viele und sind sie als Teil unserer Fauna doch so präsent, dass der NABU einen recht ausführlichen Artikel entworfen hat. Auch einen kompakten Steckbrief gibt es. Darin heißt es unter anderem: "Sie ernähren sich von Samen, Brot, Früchten, Körnern und allerlei Abfall." Allerlei Abfall - was hat man sich als Nicht-Städter darunter genau vorzustellen? Als Ruhrpott-Kind umschreibe ich es mal so: Die alte Oma aus Mary Poppins, die den Tauben Körner zu futtern gibt, entstammt einer sehr romantischen Vorstellung. In Wahrheit werden zwischen Straßenbahngleisen erbitterte Kämpfe über ein Stück Currywurst ausgeführt! Kommt die Straßenbahn, steigt der Nervenkitzel. Wer zuerst flieht, verliert die Currywurst. Wer zu spät flieht, kommt zwischen Bahn und Gleise.

Müllschlucker, "Ratte der Lüfte", ein gurrendes Paket gleichgültig grauer Federn. Und das wollen wir als Jahresvogel küren? Für wunderbare Ökosysteme steht die Stadttaube sicherlich nicht. Aber wofür dann?

Bevor wir uns dieser Frage widmen, stellen wir uns zunächst eine andere: Wo kommt dieses rotäugige Täublein, das in den Menschen eher gemischte Gefühle hervorruft, überhaupt her?

Wie die Taube in unsere Städte kam

Die Stadttaube stammt von der in Europa und Afrika heimischen Felsentaube (Columba livia) ab. Wie der Name schon sagt, benötigt sie Felsen und Klippen zum Brüten. Natürlicherweise kommt sie vor allem im Mittelmeerraum vor, im Osten reicht ihre Verbreitung bis zum Kaspischen Meer. Zudem lebt sie in Schottland, Irland, den Shetland- und Faröer-Inseln. Im Orient wurde die Felsentaube zur Haustaube (C. livia f. domestica) domestiziert. Die skurrilen Formen, die vor allem im viktorianischen England durch spezialisierte Zucht entstanden, beeinflussten später Charles Darwin bei der Erarbeitung der Evolutionstheorie. Haustauben wurden aber auch als Brieftauben zur Übermittlung von Nachrichten eingesetzt. Taubenzucht als Hobby und Sport - so schaffte es die einstige Felsentaube in ihrer domestizierten Form auch in felsenarme Regionen Mitteleuropas.

Immer wieder entkamen dabei einige Vögel und verwilderten. Viele behielten offenbar ihre weitestgehend ursprüngliche Färbung, doch anders gefärbte Zuchttauben mischen sich immer wieder dazu und sorgten für die große Variabilität unserer heutigen Stadttaube.

Feindbild Taube

Lange Zeit hielten sich die wilden Populationen in Grenzen, doch nach dem zweiten Weltkrieg explodierten die Bestände nahezu. Gebäuderuinen stellten den perfekten Ersatzlebensraum dar, in den nächsten Jahrzehnten entwickelte sich zudem unsere Wohlstandsgesellschaft, deren Überfluss bequem von der Straße aufgepickt werden kann (so wie die besagte Currywurst). Leider kamen mit mehr Tauben auch mehr Probleme: Wo viele Tiere auf engem Raum leben, entsteht ein hoher Konkurrenzdruck (= Kampf um die Currywurst). Unter dem Stress leiden die Tauben, das Immunsystem wird geschwächt, sie sind anfälliger für Krankheiten. Außerdem ärgern sich die Stadtbewohner und -verwaltungen über die Kotmengen, die bei hohen Taubendichten zwangsläufig anfallen. Tauben verbreiten kaum mehr Krankheiten als andere Vogelarten, sind aber dennoch als "Ratten der Lüfte" verschrien und werden von vielen Menschen vehement verfolgt.

"Abschuss, Käfigfang mit Tötung, Vergiften mit Blausäure oder Schlafmitteln, „Tauben-Pille“, Ultraschall, elektromagnetische Felder, Taubenpasten oder mechanische Mittel wie Gitter, Drähte, Nägel und so weiter" zählt der NABU in seinem Stadttauben-Artikel als Beispiele auf. Diese Methoden seien "meist wenig effektiv und aus Tierschutzsicht bedenklich". Ein besseres Management bestünde zum Beispiel aus dem gezielten Erbauen von Taubenschlägen bei gleichzeitiger Entwertung der üblichen Niststellen. In den Taubenschlägen können die Bestände gut kontrolliert werden.

Taubenfreunde

Die Taube auf den Fotos zu diesem Blogpost schleppte ich selbst eines Tages zuhause an. Sie saß verletzt auf einem Stein im Bach nahe eines kleinen Stadtkernes und konnte nicht mehr fliegen. Ich fing sie ein und brachte sie zur nächsten Tierärztin. Die Wunde an der Brust wurde versorgt, ein paar Tipps zum Päppeln wurden mir mitgegeben sowie eine Katzenbox zum Transport. Taubi (so nannten wir sie - jaja, sehr kreativ) ließ all dies über sich ergehen, ließ sich aber zugleich nie anmerken, dass ihre Vorfahren mal domestiziert waren. Sie verhielt sich von Anfang bis Ende wie ein wildes Tier und war am Ende wohl froh, wieder fortfliegen zu können.

(Den Luxus, sich auf ein Rentierfell zu kuscheln, ließ sie sich dennoch nicht nehmen...)

Taubi

Stadttauben mögen eigentlich Neozoen sein, aber sie sind fester Bestandteil unserer Fauna und Lebewesen wie viele andere auch. Sie haben es nicht verdient, dass man sie von seinen Kindern scheuchen und jagen lässt (so bringt man seinen Kids eine lebensverachtende Haltung bei...), dass man selber nach humpelnden Bahnhofstauben tritt, ihnen mit bösen Absichten nachstellt oder sonstwie Schaden zufügt. Zum Glück gibt es auch viele Menschen, die Mitleid mit den Tieren haben. In Wildtier-Auffangstationen kümmern sich die Tierfreunde um hilfsbedürftige Stadttauben, andere konzentrieren sich ganz auf die Stadttaube (sogenannte "Tauben-Hilfen"). Solche Tauben-Fans waren es wohl, die für ihre verkannten Lieblinge ordentlich die Werbetrommel rührten. Am 14. Oktober schrieb der NABU zur laufenden Vorwahl zum Vogel des Jahres: "Auch jetzt hält die Führung der Stadttaube noch an, die zwischenzeitlich sogar fast alle Bundesland-Rankings anführte. Nur zwei Bundesländer (offensichtlich ohne viele Stadttauben) wehrten sich gegen diesen Trend."

Stellvertretend für all die Taubenfreunde habe ich mir das "Plädoyer für die Tauben" von Jasmin Schreiber angehört, welche mit Lorenz Adlung den Wissenschafts-Podcast "Bugtales.fm" produziert. Darin räumt sie mit ein paar Vorurteilen gegenüber (Stadt-)Tauben auf. Wer sich für die Details interessiert, kann sich die Episode anhören; ich fasse grob zusammen:

Vorurteile auf dem Prüfstand

Vorurteil 1: Tauben machen krank. Schon vor Jahrzehnten wurde wissenschaftlich untersucht, ob Stadttauben schlimmere Krankheitsschleudern sind als die "süßen" Gartenvögel wie die Blaumeise oder das Rotkehlchen, mit denen wir uns so gerne umgeben. Ergebnis: Nope, kein Unterschied. Kranke Tauben fallen uns aber häufiger ins Auge, weil die Vögel als Currywurst fressende Kulturfolger mit vergleichsweise geringer Fluchtdistanz mehr auffallen als z.B. ein krankes Rotkehlchen, das sich eher bedeckt hält.

Vorurteil 2: Aber Salmonellen! Ja, Tauben haben häufig Salmonellen, die sind aber in der Regel taubenspezifisch, schaden uns Menschen also nicht. Stadttauben haben schonmal "Menschen-Salmonellen", dies sei aber so selten, dass es wahrscheinlicher sei, sich an seiner Currywurst zu infizieren (oder an anderen, im Podcast genannten Beispielen).

Vorurteil 3: Der böse Taubenkot! Hier wird zur Verminderung des Kotproblems auf das oben schon erwähnte Taubenschlag-Management eingegangen. Populationsregulierungen laufen z.B. so ab, dass Taubeneier durch "Fake-Eier" aus Gips getauscht werden. Es wird also das Problem der großen Kotmengen nicht kleingeredet, sondern hervorgehoben, dass es probate Mittel gibt, diese Mengen zu reduzieren (indem man die Tauben auf nette Art reduziert)

In dem Podcast wird weiterhin über das interessante Sozialleben der Tauben eingegangen. Es lohnt sich, mal reinzuhören. Und wenn man das nächste Mal in der Stadt mit roten Glitzeräuglein um einen Krümel angebettelt wird, sollte man zwar nicht unbedingt nachgeben, darf aber gerne mal darüber staunen, was alles in dem kleinen Taubenhirn steckt.

Die Stadttaube als Vogel des Jahres?

Mit welcher Botschaft nun sollte die Stadttaube Vogel des Jahres werden? Dass sie überhaupt bisher so viele Stimmen ergattern konnte, damit haben die Naturschützer offenbar gar nicht gerechnet. In einem RiffReporter-Interview sagte der LBV-Vorsitzende Norbert Schäffer noch: "Wenn es die Straßentaube wird, wird sie es und wir werden auch dazu eine Botschaft haben. Das wäre natürlich nicht, was wir erwartet haben. Ich persönlich sehe sie auch nicht wirklich als eine heimische Vogelart an."

Denke ich an die Stadttaube, so fällt mir auf, dass sie für sehr viele in der Stadt aufwachsende Menschen vielleicht die erste Begegnung mit "wilder" Natur sind. Die erste Erfahrung mit anderen Tieren außer dem Terrier von nebenan, sozusagen. Vielleicht könnte man sie als Botschafterin für Stadtnatur wählen? Während man auf Bus oder Bahn wartet, kann man das Balzverhalten wilder Vögel beobachten, quasi aus nächster Nähe - das ist schon was. Meine eigenen ersten Erfahrungen mit natürlicher, langsamer Verwesung habe ich selbst an verendeten Straßentauben gemacht. Die Straßentaube für die Stadtnatur?

Nein, dieses Motto haben ihr NABU und LBV nicht ans Beinchen gebunden. "Toleranz für Tauben!" heißt es.

Ehrlich gesagt finde ich, dass das ein wenig plump und unkreativ daherkommt. Die anderen Kandidaten stehen für zukunftsträchtige Wälder, für Moorschutz, für eine naturverträgliche Agarpolitik, für Insektenschutz. Die Taube? Für Toleranz für Tauben.

Aber seien wir nicht zu voreilig. Vielleicht soll über die Stadttaube eine Diskussion ausgetragen werden, die zu einem besseren Verständnis von Naturschutz führen soll. Viele der Taubenfans sind - zumindest wenn es um ihre Schützlinge geht - nämlich vor allem dem Tierschutz verpflichtet. Beim *Tier*schutz geht es darum, das Leid jedes einzelnen Individuums so gering wie möglich zu halten. Der *Natur*schutz kümmert sich primär um den Erhalt wertvoller Ökosysteme und um ganze Arten. Da wird auch schonmal utilitaristisch vorgegangen. Und machen wir uns nichts vor: In der Natur ist nicht Friede, Freude, Eierkuchen. Das bedeutet nicht, dass Naturschützer unnötiges Tierleid einfach hinnehmen.

Dass die Grenzen zwischen Tier- und Naturschutz selbst im selben Lager zuweilen unterschiedlich gezogen werden, merkte man an den Reaktionen mancher NABU-Mitglieder, nachdem der neue NABU-Präsident gewählt worden war. Dieser ist nämlich auch aktiver Jäger. Unter manchen in der "Basis" war die Empörung groß. Dabei schließen sich gewissenhafte Jagd und Naturschutz mitnichten aus.

Wenn wir uns auf https://www.vogeldesjahres.de/ für die Stadttaube entscheiden, möge sie für diese Diskussion - Tierschutz vs. Naturschutz - stehen. Doch soll sie außerdem für ein wenig bunt-graue Natur in den bunt-grauen Städten stehen. Und auch für Mitgefühl all den nichtmenschlichen Tieren gegenüber, mit denen wir unseren Lebensraum teilen.

Und essen wir diese verdammte Currywurst gefälligst auf, statt sie auf den Boden zu schmeißen!

Die Qual der Wahl

Ich habe nun alle zehn Kandidaten für den Titel "Vogel des Jahres 2021" vorgestellt. Für alle gibt es gute Gründe, sie zu wählen. Manche sind einander ähnlich, manche scheinen miteinander wenig zu tun zu haben. Bis zum 19. März 2021 können wir uns für unseren Favoriten entscheiden. Wer wird es sein? Wem gebe ich meine Stimme? Welches der Themen, die die einzelnen Piepmätze repräsentieren, liegt mir am meisten am Herzen? Einiges habe ich in den letzten zwei Wochen gelernt, aber diesbezüglich fühle ich mich keinen Deut schlauer. Zum Glück ist noch etwas Zeit...

Abgelegt unter: Ornithologie

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Diane Klüsener
Neutjenthal 1
24816 Stafstedt

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